LESEPROBEN

Man mag mich für einen Freak halten. Meinetwegen auch für einen Taugenichts, aber eines habe ich verstanden: Das Erfolg und Misserfolg immer zwei Seiten haben. Und das Glück keine davon ist.” – ‘Lex’ Caviazel

HUNTKein Weg zurück

Intro

Man sagt, Katzen hätten sieben Leben. Die Engländer
behaupten sogar, es wären neun, weshalb ich die britische

Version bevorzuge. Ich heiße Alexander Caviazel. Nicht wie

James, der berühmte Schauspieler, der sich in der Mitte mit

einem
e schreibt. Meine Schwester prahlte beharrlich damit,
dass wir und dieser Schönling gemeinsame rätoromanische

Vorfahren hätten.

Unter uns gesagt, auf so einen Scheiß gab ich nie etwas.

Meine Kumpel und eine Handvoll Journalisten nannten

mich Lex. Ich bin Surf-Profi, oder war es. Ganz wie man

es betrachtet. Ansonsten gibt es nicht allzu viel über mich

zu erzählen. Vielleicht noch dies: In den zweiunddreißig

Jahren meines bisherigen Lebens habe ich mehr als die

Hälfte meiner Resets bereits verbraucht. Die der englischen

Redensart, versteht sich.

Vielleicht auch nur vier.

Aber das ist eine andere Geschichte

 

Illusions

In dem Traum, der sich beinahe jede Nacht in meinen
Schädel schleicht, brettere ich nach einem gestandenen
No-Hand-Backloop auf die Tribünen am Strand zu. Ich sehe,
wie die Zuschauer mit weit aufgerissenen Augen von ihren
Plätzen aufspringen, als ob eine brennende Boeing 747 im
Sturzflug auf sie zuhalten würde. Ich stelle mir die Gesichter
der Kampfrichter vor, wie sie die Köpfe schütteln über
die Dummheit, einen sicheren Weltcupsieg mit einem ent-
behrlichen Manöver so leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
Warum nehme ich nicht die Hände vom Rigg und beende
den Contest mit einem simplen, aber halbwegs spektakulären
Flaka Diabolo?
Mein Vorhaben ist der reinste Wahnsinn.
Größenwahn. Raserei.
Oder eine Mischung aus allem.
Mittlerweile schätze ich meine Geschwindigkeit auf knapp
siebzig Stundenkilometer, und mich trennen nur noch etwa
hundert Meter von den Zuschauern, von denen die ersten
panisch die Tribünen verlassen, weil sie glauben, ich würde
tatsächlich wie ein Selbstmordattentäter in die Menge rasen.
Ich presse meine salzigen Lippen aufeinander und hoffe
verbissen auf das Wunder.
Eine Welle. Einen Brecher.
Nichts Gewöhnliches.
Eine Big Wave, die in der Lage ist, mich in den Himmel zu
schießen, in eine Höhe, die es mir ermöglicht, etwas zu tun,
was noch keinem zuvor gelungen ist. Mein Trainer würde
mir jetzt zurufen, dass ich atmen und die Schulterblätter
replatzieren sollte.
Aber ich kann nicht.
Weder atmen.
Noch entspannen.
Stattdessen verkrampft sich mein Körper, wird zu einer
Einheit mit dem Hundert-Liter-Board und dem Sieben-
Quadratmeter-Segel.
Alles oder nichts.
Noch sechzig Meter.
Die Wasseroberfläche ist jetzt hart wie Beton. Der auf-
landige Wind bläst wie ein Berserker und drängt mich
unerbittlich auf das Ende aller Hoffnungen zu.
Das Brett unter meinen Füßen stöhnt wie ein Stier, dem
der Matador im letzten Akt der Corrida mit dem Degen den
Todesstoß verpasst.
Lange wird das Material dieser ungeheuren Belastung
nicht mehr standhalten.
Noch dreißig Meter.
Plötzlich passiert es. Ohne jedes Zutun.
Der ohrenbetäubende Schlag einer Welle katapultiert
das Brett senkrecht in die Höhe. Eine horrende Energie
schleudert mich der Sonne entgegen.
Aller Lärm weicht augenblicklich einer beängstigenden
Stille.
Alles geschieht von selbst.
Der Triple-Loop. Der dreifache Salto.
Ich habe keine Angst.
Ich spüre gar nichts mehr und weiß, dass dies der groß-
artigste Moment in meinem Leben sein wird.
Peng!
An dieser Stelle reißt der Film.
So abrupt, als hätte jemand den Stecker des Projektors
aus der Wand gerissen. Die grellen Bilder weichen einer
bleischweren Dunkelheit, in der ich schweißgebadet nach
einem Ausgang taste, den schalen Geschmack von warmem
Champagner im Mund und das Gefühl, auf der Stelle kotzen
zu müssen.
Eines Tages werde ich den Traum zu Ende träumen.
Eines Tages werde ich herausfinden, ob ich es geschafft
habe.

 

Before

Als Kind träumte ich den großen Traum vom Fliegen – wie
vermutlich die meisten Jungs. Ich wollte Kunstflugpilot
werden und mit waghalsigen Manövern die Welt begeistern
(und natürlich reich werden). Als ich den Wunsch zu Hause
das erste Mal äußerte (ich muss in der dritten oder vierten
Klasse gewesen sein), brachen meine Mutter und meine
fünfzehn Jahre ältere Schwester in Tränen aus. Mein Vater
verließ mit versteinerter Miene gar das Zimmer. Ich verstand
die Welt nicht mehr. Erst ein paar Tage später nahm er mich
mit auf den Friedhof und führte mich zu einem Grab, auf
dem der Name Johannes Caviazel stand: 1980 bis 1988. Ich
kapierte immer noch nichts, bis mir mein Dad auf seine
umständliche Art erklärte, dass ich einen Bruder gehabt
hatte, der ein Jahr vor meiner Geburt bei der Flugkatastrophe
in Ramstein ums Leben gekommen war. Zusammen mit
meinem Onkel, meiner Tante und meinen beiden Cousinen,
von denen ich bis dahin auch noch nie etwas gehört hatte. In
der Familie wurde nie über diese Tragödie gesprochen.
Fakt war, das Thema Flugzeuge war mit meinem Bruder
und meiner Verwandtschaft ein für alle Mal gestorben. Statt-
dessen spielte ich ein paar Jahre leidenschaftslos Fußball und
übte mich bis zum blauen Gürtel in Karate. Mit fünfzehn
fuhr ich zum letzten Mal mit den Eltern in die Ferien und
durfte am Lac de Morat, in der Westschweiz, einen Surfkurs
für Anfänger besuchen. Nach dem Theoriegeplapper stand
ich endlich auf dem Brett, richtete das Segel auf, spürte den
Wind in meinem Rücken und nahm Fahrt auf. Intuitiv tat
ich, was ich tun musste, um bei einer schnellen Wende nach
Luv Höhe zu gewinnen, und auf Anhieb gelang mir ein
Shift. Später, als der Wind und die Wellen zunahmen und
die anderen Kursteilnehmer längst an den Strand zurück-
geschickt worden waren, fuhr ich meinem Surflehrer einen
astreinen Cut-Back nach. – Ich war für diesen Sport geboren.
Im Jahr darauf gewann ich die deutschen Jugendmeister-
schaften in der Kategorie Raceboard, und kurz danach
wurde ich als jüngster Rider in die Bundesligamannschaft
des Segelklubs Bayer Uerdingen aufgenommen. Ich fuhr
acht Jahre lang Weltcuprennen in der Königsdisziplin
Waveriding, und ab und an stellte ich mein Können in einem
Freestyle-Contest auf die Probe. Beides mit den unter-
schiedlichsten Resultaten und zu meinem Bedauern ohne
jedwede Kontinuität. Manchmal gelang mir einfach alles,
so wie bei meinem letzten Rennen, und an anderen Tagen
hatte ich das Gefühl, das erste Mal auf dem Brett zu stehen.
Irgendwie spiegelten sich in meinen sportlichen Leistungen
mein gesamter Werdegang und das einzige Motto, nach dem
ich bislang gelebt hatte, wider: Alles oder nichts!

 

 

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